schnell, solange noch aktuell
Was Magazine angeht, bin ich ja ein Wegschmeißer. Lesen und dann weg damit. Dieses Heft heb ich aber auf und das ist bei mir wirklich eine Auszeichnung für eine Zeitschrift. Doch von vorne:
Die April/Mai-Ausgabe von mare, der Zeitschrift der Meere widmet sich dem Schwerpunktthema Sex. Knapp die Hälfte des Heftes (60 von 140 Seiten) wird von diesem Thema eingenommen. Sonst gibt es einen Nachruf auf Elisabeth Mann Borgese neben einem Bericht über eine Frau, die ihr Leben auf einer Bohrinsel vor der aserbaidschanischen Küste verbracht hat. Eine Reportage über den Hamburger Freihafen auf dem Weg zu einem neuen Stadtviertel. Buch- und Filmkritiken mit Bezug zum Meer. Alles solide gemacht und interessant.
Gekauft hab ich's natürlich aber wegen des Sexschwerpunkts. Und der ist so angenehm unaufgeregt gelungen, dass ich mich nicht scheue, zu sagen, ich hätte durchgeatmet wie am Meer.
Die Texte:
Matrosen machen sich fein, um ins Bordell zu gehen. Interviews mit zwei Hamburger Hafenprostituierten. Die schönsten Filmliebesszenen am Meer. Die Südsee als mythisches Land reiner und freier Sexualität und der Einfluss der westlichen Kolonialisierer. Pinguine, die sich prostituieren, um Nestmaterial zu klauen. Poseidon und seine sexuellen Eskapaden in der griechischen Mythologie. Historisches über Deportation englischer Dirnen nach Australien.
Das Niveau der Texte ist so unterschiedlich wie ihre Themen, der Durchschnitt liegt aber bemerkenswert hoch. Die Autoren und Autorinnen schaffen es durchweg, ihre Texte weder ins Reißerische noch ins Verkrampfte abgleiten zu lassen. Am besten gefallen mir der Text und die Interviews über Seeleute und Prostitution, die nicht den Klischees zum Thema verhaftet bleiben, sondern einen echten Einblick ins Leben der Männer und Frauen auf beiden Seiten dieses Handels gibt.
Plus: eine Menge skurrilen unnützen Wissens. Oder wusstet ihr, dass Wale ihren mit Tastsensoren bewehrten Penis wie einen Greifarm einsetzen können? Ich nicht.
Plus: sehr schöne Bilder.
Die Geschichten über den Hamburger Hafen und die Bohrinsel sind schön photographiert. Angenehm präsentiert, weiße Margen, viel Luft auf den Seiten und schön ausgewogen im Verhältnis von Bild zu Text.
Dann die S/W-Aufnahmen des französischen Photographen Antoine d'Agata. Bilder von Prostituierten aus aller Welt, die die Balance schaffen, zu zeigen ohne blosszustellen. Eigentlich der beste Teil des Hefts, diese Bilder.
Das Wort S E X und dazu Bilder von Frauen, die alle durch das fit for fun-Raster fallen. Schlimm, das außergewöhnlich finden zu müssen. Ich wünschte, das würde ganz schnell trendy werden, auf Photos so aussehen zu dürfen wie diese Frauen es tun.
Ob mare ohne Sex nicht vielleicht doch etwas dröge ist, werd ich im Juni herausfinden. Der Themenschwerpunkt dann: Ostsee. Ich bin gespannt.